Steinskulptur ein Gedanke tritt langsam in die Zeit
Ein Riß im Himmel.
Die Schatten der
Vorfahren
hinter unserm
Haus.
Kalksandsteinabbruch.
Das Gedächtnis einer
Zeit
wechselt seine
Form.
Beate Conrad
Regression
mein Blick
in den Spiegel
Hans-Jürgen
Göhrung
Ihre Hände -
Dürer muss sie gekannt
haben
Ilse Jacobson
Birgit
Helmlechner
LINE PIECE II
___ die dunklen
Augen
einer
Fleckengalaxie
Ramona Linke
Dietmar Tauchner
Regentropfen in einem Weinglas
Kompendium zur Entwicklung der modernen Haiku-Dichtung*
haikai wa atarashimi wo motte
inochi to zu.
Das Haikai lebt vom
Neuen.
Kyorai an Kikaku
(1)
I Shômon-Schule - der ideelle Beginn
In gewisser Weise könnte der
Beginn des modernen Haiku auf das 17. Jahrhundert tradiert werden. Mit der
Haikaidichtung von Matsuo Bashô und seiner Shômon-Schule entwickelte sich eine
Poetik, die eindeutig moderne Züge erkennen ließ. Sofern man sich in Bezug auf
den Begriff "modern" auf eine mögliche Bedeutungsebene im Sinne von
"Paradigmenwechsel" einigen mag, initierte Bashô einen solchen durch eine
vielschichtige Poetik, die bis heute kaum an Frische verloren hat. Modern ist:
wenn eine neue Epoche beginnt, eine Innovation auf den Plan tritt, eine
deutliche Veränderung hinsichtlich des bisherigen Status Quo, über nur modische
Attitüden hinausgehend.
In dieser Hinsicht hat Bashô
den Term, also das poetische Prinzip schlechthin für die Haikai-Dichtung,
betont, nämlich das "atarashimi". Die Forderung nach dem Neuen, dem noch nicht
Gewagten, nach neuen Sujets, nach neuen Herangehensweisen an alte Ideen und
Themen und neuen Formen. Bashô hat das folgendermaßen auf den Punkt gebracht:
"Suche nicht die Spuren der Alten, suche, was sie suchten!" (2)
Bashô brachte beispielsweise
mit seinem berühmten Frosch-Haiku ein neues Sujet in die Haikai-Dichtung, indem
er Amphibien in einem bisher nicht dagewesenen Kontext präsentierte. Außerdem
scheute er nicht dafür zurück, von "pissenden Pferden" und "Flöhen" zu
berichten, was in der traditionell-höfischen Rengadichtung verpönt war, weil es
als unschicklich und unfein galt.
Bashô weitete das poetische
Feld der etablierten Assoziationen und war dadurch - überspitzt formuliert - ein
Rebell, ein Avantgardist, der durchaus von Zeit zu Zeit das Metrum der 5-7-5 on
(japanische Silben oder Lautzeichen) über Bord warf und auch mal Verse in 10-7-5
umsetzte. (3)
Bashô folgte dem Kreativen,
"zoka zuijun", wie es in einer seiner Poetik-Anweisungen heißt. "Bashô's poetic
developed a spatial dynamism with cosmologic depth." (4) (Bashôs Poetik
entwickelte eine räumliche Dynamik mit kosmologischer Tiefe.)
Die Shômon-Schule öffnete die
Haikai-Dichtung also für das Neue und bisher noch nicht Dagewesene, baute eine
gangbare Brücke zwischen dem Traditionellen und dem Modernen.
II Nippon-ha (japanische
Schule) - der historische Beginn
Historisch gesehen beginnt das
moderne Haiku - "gendai" (Japanisch für "modern") genannt - mit Masaoka Shiki
und seiner Nippon-ha (japanischen Schule) im frühen 20. Jahrhundert. Shiki
machte das Hokku (Eröffnungsvers eines Kettengedichts) zum Haiku, um eine
konsequente Trennung von der Kettendichtung zu erreichen und das Haiku zu einer
eigenständigen Form zu erheben. Auf Shiki geht einer der bekanntesten und
wirkungsvollsten Poetik-Ratschläge der Haikugeschichte zurück, nämlich das
"shasei", die Skizze aus dem Leben; wonach möglichst objektiv der Wahrnehmung zu
folgen sei. Ein Credo, das der weltgewandte Baseball-Fan Shiki dem europäischen
Realismus der Malerei entlehnt hatte und somit das binnenjapanische Haiku für
international Ideen öffnete. Allerdings hatte Shiki das "shasei" mehr für
Haiku-Anfänger gedacht, damit sich diese von ihren Gedanken und Ego-Phantasien
leichter zu lösen vermochten. Ähnliches schlug Bashô vor: "Lerne über die Föhre
von der Föhre. (5)
Shiki sprach also vom "shasei"
als Einstiegsebene, die in Folge irgendwann zum "erweiterten Realismus" und
später zu "Wahrhaftigkeit" überführte. (6)
Dies ist insofern wichtig, als
dadurch deutlich gemacht wird, dass die "alten Meister" nirgendwo Regeln
einzementierten oder Gesetze anführten, die unverbrüchlich umzusetzen waren und
das Eintauchen in die Wirklichkeit reglementieren sollten: Sie gaben in ihren
Poetiken mehr oder weniger verbindliche Hinweise darauf, wie ein Haikuadept
seine eigene Wahrnehmung, seine eigene Ästhetik entwickeln und schärfen konnte.
In diesem Sinne existieren keine "Haikuregeln", sondern allein vielschichtige
Poetiken diverser Haiku-Schulen. Das orthodoxe Haiku gibt es nicht, sondern
allein die Entscheidung für eine Schule, einen poetischen Stil. Kurz und
vereinfacht gesprochen: Wenn ein Haikuadept mehr subjektive Bezüge im Haiku
sucht, mag er mehr in der Issa-Tradition stehen, setzt er bewusst auf die Kraft
des Neuen relativ zum Alten, dann wird er wohl eher in Bashôs Shômonschule
beheimatet sein ...
Shikis wichtigste Schüler
waren Takahama Kyoshi und Kawahigashi Hekigotô. Ersterer galt während des 2.
Weltkriegs als die konservative Persönlichkeit des Haiku und vertrat die
Ansicht, dass das Haiku sich nur um "Blumen und Vögel" ("kachô fûyei"), poetisch
kümmern und alle anderen Themen wie soziale, psychologische etc. außen vor
lassen solle. Der Mensch soll die Natur nicht nur objektiv wiedergeben, sondern
bewundern und verehren. (7)
Dem entgegen stand Kawahigashi
Hekigotô, dem es mehr um eine weitgefasste Wirklichkeit und deren vertiefte,
verzweigte Wahrnehmung und um die suggestive Kraft des Haiku ging. Er strebte
"eine tiefe Verbindung mit dem Universum" an. (8)
III Wahrnehmung + Wissen =
wirksame Wirklichkeit?
Nach dem zweiten Weltkrieg
traten viele neue Richtungen und Schulen auf, die sich vor allem durch die
starke Implikation des Menschlichen, also nicht nur der Observation der Natur,
charakterisierten. (9)
Kurz gesagt, das Haiku
spaltete sich in zwei Lager und zwei divergierende Richtungen: die
"Kyoshi-Linie", in der die Schönheit der Natur beschrieben und ihr gehuldigt
wurde, in der der Mensch als Wahrnehmender, "das fünf Fuß große Kind" geblieben
ist, wie Bashô meinte, und sich aller anderen Ereignisse entzog; und die
"Hekigotô-Linie", die auch den Menschen und all seine Schöpfungen und
politischen Wirrungen und Dynamiken mit in das Dichten nahm, sich gewissermaßen
von der Beschaulichkeit der Haiku-Dichtung entfernte. Die Hekigotô-Linie fügte
der Wahrnehmung auch das Wissen hinzu. Ein einfaches Beispiel, um den
Unterschied zu illustrieren: "Die Sonne geht auf" ist eine Wahrnehmung, die
allerdings dem Wissen widerstrebt, zumal wir alle wissen, dass die Sonne nicht
aufgeht und sich die Erde um die Sonne dreht. Beispiele für Dichtung, die über
die Wahrnehmung hinausgehen, sind alle jene, die die sinnliche Wahrnehmung
transzendieren, Erfahrungen thematisieren, die nicht unbedingt sinnfällig sind.
Die "Wissensdichtung" löst sich von der Abfolge der Momente, entwickelt den
"sechsten Sinn", der als Erfahrungssammlung menschlichen Wissens verstanden
werden kann, und impliziert die historische Zeit wie die physikalische Raumzeit.
Das Haiku der Hekigotô-Linie
ist somit nicht mehr unschuldig, es ist in den "großen Teich" der menschlichen
Transaktionen gesprungen. Es kennt das Hässliche wie das Schöne. Es kennt die
Natur und deren Kreationen. Es kennt die Geschichte und weiß, dass diese mehr
ist als nur eine Gutenachtgeschichte. Es impliziert das Konkrete wie das
Abstrakte, das laut Hegel auch das "Einfache", Wesentliche ist.
Die Wirklichkeit wiederum ist,
laut Thomas Mann, "das, was wirkt." (10) Folglich geht die Wirklichkeit über die
Realität (Dinghaftigkeit) des Objektiven hinaus und integriert auch das
Surreale, Träume und Visionen und Fantasie. Wirklichkeit, die über die bloße
Skizze aus dem Leben hinausgeht, und Wirkung sind zwei zentrale Begriffe der
modernen Haikudichtung. Daraus ließe sich die Formel herleiten:
Wahrnehmung + Wissen =
wirksame Wirklichkeit.
IV Traditionell (dentô) versus modern (gendai)
Wodurch unterscheidet sich das
traditionelle Haiku nun vom modernen? Was verbindet alt und neu? Zunächst muss
noch einmal darauf verwiesen werden, dass die Poetik diverser Schulen das Haiku
in der jeweiligen Epoche bestimmen. Doch lassen sich einige grundlegende
Differenzen und Übereinstimmungen markieren.
Das Haikai während der
ideellen und vor der historischen Wende ins Moderne lässt sich durch folgende
Merkmale charakterisieren:
1. Jahreszeiten- und
naturgebunden (Kigo)
2. Kireji
(Schneidewort)
3. festgelegtes, tradiertes,
höfisches Themenkanon
4. etablierte
Assoziationen
Hingegen wird das moderne
Haiku vornehmlich durch folgende Merkmale charakterisiert:
1. evokative Schlüsselbegriffe
(Muki), Kigo ist nicht verbindlich
2. die Implikation des
Menschen (seines Wissens und seiner Handlungen)
3. kein fixer Themenkanon, das
Neue (atarashimi) als Herausforderung und Forderung
4. Dissoziation (formal und
inhaltlich), die zu neuen Assoziationen führt
V Yûgen - der "Duft des
Haiku"
Was verbindet nun das traditionelle und das moderne Haiku? Ganz bestimmt die formale und inhaltliche Kürze (katakoto, Sinn für fragmentarische Sprache), die das Wesentliche nicht ausspricht, sondern allein andeutet, um so Raum für den Rezipienten zu schaffen. Das Haiku, alt oder neu, zeigt in Richtung Mond, um den Leser einzuladen, diesen selbst zu entdecken. Ein gelungenes Haiku beginnt, wenn es zu Ende ist, dann nämlich, wenn der Leser seinen Assoziationen freien Lauf lassen kann. Die Reduktion oder Komprimierung (shibumi) auf das Nötige, frei von blendenden Beiwerk, von Flickversen.
Zudem benötigt jedes Haiku,
einerlei ob traditionell oder modern, eine Nebeneinaderstellung von zwei Ebenen,
die die Beziehung zwischen zwei Elementen beschreiben oder andeuten. (11) Das
Haiku setzt in Beziehung, in dem es nebeneinanderstellt. Das Haiku ist ein
"Beziehungsgedicht", es deutet mögliche neue Verbindungen und Beziehungen
zwischen Menschen und Phänomenen an.
Bashô sprach einst davon, dass
"sabi der Geschmack des Haikai sei". (12) Vielleicht ließe sich daran anknüpfend
und als universaler Nexus zwischen dem Traditionellen und dem Modernen der "Duft
des Haiku"nennen: das "yûgen", das "Geheimnisvolle", das "Nichtzufassende", das
pure Leben jenseits des Verstandes, die elegante und zeitlose Schönheit, "die
kunstvoll erschaffene Vieldeutigkeit" (13). Jedes Haiku, das uns längere Zeit
fasziniert, enthält etwas Mystisches, Geheimnisvolles, das, was nicht fassbar
ist, aber spürbar: das Zeitlose, oder wie Bashô sagen würde, "das
Unveränderliche im sich stets Verändernden." (14)
Die Übereinstimmungen im Haiku
könnten folgendermaßen aufgelistet werden:
1. Kürze &- Reduktion
(katakoto & shibumi)
2. Andeutung
(yakusoku-goto)
3. Nebeneinanderstellung
(kire)
4. "Duft des Haiku"
(yûgen)
Ich hoffe, in aller Kürze,
einige Orientierungspunkte im Kontrast und Wechselspiel zwischen "traditionell"
und "modern" gegeben zu haben. Die Innovation von heute begründet die Tradition
von morgen. Das Haiku befindet sich in Evolution, es will uns begeistern und
wirksam sein, ungeachtet von Schulen und Schablonen. Das Haiku ist ein Gedicht
der Beziehung, der Beziehung zwischen Wahrnehmung und Wissen, eine Beziehung,
die eine weite Wirklichkeit zur Wirkung bringt.
Quellenhinweise
(1) Ekkehard May (Hsg.),
Shômon II, Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, Mainz, 2002
(2) Dietrich Krusche (Hsg.),
Haiku - japanische Gedichte, Dtv, München, 1994
(3) Ban'ya Natsuishi,
Modernity and Anti-urbanism in Matsuo Basho, Kadô 3/1, Juni 2014
(4) Ban'ya Natsuishi,
Modernity and Anti-urbanism in Matsuo Basho, Kadô 3/1, Juni 2014
(5) Robert Hass (Hsg.), The
Essential Haiku - Versions of Bashô, Buson & Issa, HarperCollins, New York,
1994
(6) Lee Gurga, Haiku: A Poet's
Guide, Modern Haiku Press, Lincoln, IL, 2003
(7) Udo Wenzel, Haiku am
Scheideweg, Haiku heute-Jahrbuch 2005, Tübingen, 2006
(8) Udo Wenzel, Haiku am
Scheideweg, Haiku heute-Jahrbuch 2005, Tübingen, 2006
(9) Toshio Kimura, The Haiku
Universe for the 21st Century, Japanese Haiku 2008, Gendai Haiku Kyokai, Tokyo,
2008
(10) Thomas Mann, Doktor
Faustus, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 1960
(11) Dietmar Tauchner, Steg zu
den Sternen - Die Ästhetik des Haiku, Wiesenburg Verlag, Schweinfurt,
2012
(12) Robert Hass (Hsg.), The
Essential Haiku - Versions of Bashô, Buson & Issa, HarperCollins, New York,
1994
(13) Hiroaki Sato, Snow in a
Silver Bowl - A Quest for the World of Yûgen, Red Moon Press, Winchester, VA,
2013
(14) Haruo Shirane, Traces of
Dreams, Stanford University Press, Stanford, CA, 1998
*Vortrag anläßlich des ersten
internationalen Haiku-Symposiums der ÖHG im Kunstraum Wien, im November
2014
Vita
Dietmar Tauchner,geboren am 14. Juni 1972 in
Neunkirchen (Österreich), lebt in Puchberg am Schneeberg und in Wien. Lyriker, Essayist,
Sozialberater und -pädagoge; Begründer der Poesiekinästhesie.
Lesereisen und Vorträge in
den USA, Japan und Europa. Unter anderem Referent bei der Haiku North America
Conference 2005 in Port Townsend und beim ersten Europäischen Haikukongress in
Bad Nauheim 2005 und beim zweiten 2007 in Vadstena, Schweden. Lesung bei der
Leipziger Buchmesse 2012.
Publikationen in zahlreichen
internationalen Online- und Printmagazinen und Anthologien, wie: Haiku in
English - The First 100 Years (W.W.Norton, 2013); Haiku 21 (Modern Haiku Press,
2011), Haiku Hier und Jetzt (dtv, 2012);
Acorn (USA), Frogpond (USA),
CET (Deutschland), Haiku heute (Deutschland), KO (Japan), Mainichi Daily Nes
(Japan), Ginyû (Japan), Modern Haiku (USA), Mayfly (USA), Sommergras
(Deutschland) ...
Erster Preis beim
internationalen Kurzlyrikwettbewerb Ludbreg, Kroatien, 2005, und beim Haiku
International Association Award in Tokio, Japan, 2008, 2011 und 2014.
Preisträger (Creativity Prize) und Ehrenmitglied der Naji Naaman
Literaturgesellschaft Beirut, Libanon, 2009. Ehrenmitglied der Östereichischen
Haikugesellschaft; Mitglied der Haiku Society of America, der IG-Autoren und des
Österreichischen Schriftstellerverbandes und der Akademie für
Poesietherapie.
2005, 2009 und 2010 Gewinn
des Nyuusen-Preises; 2011 und 2012 des Tokusen und 2013 den Taishen (Grand
Prize) beim Kusamakura Haikuwettbewerb in Kumamoto, Japan. Zweiter Platz beim
Mainichi Haiku Contest in Tokio, 2011, 2013 und 2014. Zweiter Preis für "Rauschen unseres
Ursprungs" beim 2014 HSA Mildred Kanterman Merit Book Awards.
Bader-Waissnix-Preis, Schloss Wartholz 2015.
Redakteur der "World Haiku
Review" bis 2005 und bei "Haiku heute" bis 2006. 2007 - 2012 Herausgeber des
internationalen Kurzlyrikmagazins Chrysanthemum. Mitglied des "RMA Editorial
Staff" seit 2013. Mitherausgeber von VerSuch, das projekt gendai-haiku.
Publikationen
Nachtnautik, Gedichte &
Haiku, Taipan Classic; Wien 2009
As Far As I Can, Red Moon
Press; Winchester, USA, 2010
Die Sinnfonie des Seins,
Taipan Classic; Wien 2011
Schnee (Mit Bernd Bechtloff
& Blixa Bargeld), Hörspiel, Moksha Music, St. Veit, 2011
Steg zu den Sternen,
Wiesenburg Verlag; Schweinfurt 2012
Noise of Our Origin, Red Moon
Press; Winchester, USA, 2013
Unsichtbare Spuren, Red Moon
Press; Winchester, USA, 2015