Pflaumenmond ... der Geruch des Gewesenen
Lichtblaue Ferne …
Ein Gongschlag dehnt die Zeit
Walwanderung die dunklen Filamente des Raums
Zwiegespräch –
die dunklen Kontinente in uns
Gerda Förster
Ein Versuch zum deutschsprachigen Gendai-Haiku
von Dietmar Tauchner
Gendai – das in Japan das moderne Haiku des 20. Jahrhunderts und damit der Nach-Shiki-Ära bezeichnet, beginnend mit Hegikotô Kawahigashi und Seisenui Ogiwara – ist ein soziohistorischer und kulturspezifischer Begriff und damit nur bedingt auf das deutschsprachige Haiku übertragbar.
Gendai könnte
aber auch weiter gefasst und als Wechsel zu einem neuen
Haiku-Paradigma hin verstanden werden. Bashô
beispielsweise könnte
insofern als Gendai-Haijin angesehen werden, als er neue Themen in
die Haikai-Literatur brachte und neue Assoziationen. Vor Bashô
hatte es niemand gewagt, einen Frosch in
die Haikai-Literatur aufzunehmen. Und plötzlich
sprang dieser in den uralten Weiher, frisch und lebendig. Vielleicht
ließe sich „Gendai“ als Synonym dafür verstehen: Neues
und Anderes zu versuchen!
Was zu Bashôs
Zeiten der Frosch war, mag in der Haiku-Dichtung des 21. Jahrhunderts
im deutschprachigen Raum der Bezug zu den Themen der Wissenschaft
sein, zu der Welt der Psyche und des Traums, der Fantasie,
des Denkens und der interliterarischen Alliteration.
Das Haiku benötigt
–ganz
allgemein betrachtet –immer
Kürze,
Prägnanz
(Shibumi), eine Neuigkeit oder einen neuen Blickwinkel (Atarashimi),
etwas Geheimnisvolles, Überraschendes
(Yûgen)
und eine Nebeneinanderstellung (Kire) von mindestens zwei Begriffen
oder Ebenen. (Mehr dazu in: „Steg
zu den Sternen“,
Wiesenburg Verlag, Schweinfurt 2012, beziehungsweise
„Die Ästhetik des Haiku“.)
Ein nicht zu vernachlässigendes
Element des Modernen erscheint der Umgang mit Nebeneinanderstellungen
zu sein. Nebeneinanderstellungen müssen
zueinander in Verbindung stehen, um wirksam sein zu können.
In der klassischen Haiku-Dichtung spielten Wort-
und Inhaltsverbindungen eine große
Rolle. Wort-Verbindungen bringen Begriffe der klassischen
Haikai-Dichtung miteinander in Verbindung, Begriffe, die zu
etablierten Assoziationen geworden sind.
Beispielsweise auf regionale und temporäre
Verhältnisse
umgelegt: Maiabend und Kuckuck.
Inhalt-Verbindungen beruhen auf das
Verhältnis
von Ursache und Wirkung, auf narrative Bewegungen, szenische
Ausdehnung oder alles, was inhaltlich logisch miteinander verbunden
ist, wie Bahnhof und die Folgen davon,
am Bahnhof zu sein.
Bashô
und seine Shômon-Schule
betonten und bevorzugten jedoch eine neue Art der Assoziation,
nämlich
die Duft-Verbindung.
„The
Master (Bâsho)
said: The hokku has
changed repeatedly since the distant past, but there have been only
three changes in the nature of the haikai link. In the distant past,
poets valued word links. In the more recent past, poets have stressed
content links. Today it is best to link by [...]
scent links.“
(zitiert nach Haruo Shirane „Traces
of Dreams“,
Seite 85)
Die Duft-Verbindung,
die sich als eine Art atmosphärische
Assoziation umschreiben ließe,
verknüpft
Objekte, Bilder, Prozesse und Ebenen miteinander,
die nicht nur wörtlich
und inhaltlich miteinander verbunden
sind, sondern durch paradoxe (überraschende),
lebendige und geheimnisvolle Beziehunsverhältnisse.
Nein, die Blume muss nicht mehr nur mit ihrem Duft, ihrer Farbe oder
einer Biene assoziert werden (Wort- und Inhaltsverbindungen),
sondern kann mit anderen Sujet in Beziehung stehen, die der
moderne Haijin wahrnimmt und in seinem Haiku festhält.
Vielleicht gibt es ein Verhältnis
zwischen Blume und einem Objekt, das auf den ersten Blick damit
nichts zu tun hat? Vielleicht hat die Blume etwas mit der Handtasche
der Ehefrau zu tun? Oder gar etwas mit einem Schwarzen
Loch? Die bekannten Bezüge dehnen sich aus. Die Verbundenheit
allen Seins, die in der buddhistischen Kosmologie als Axiom gilt,
erlauben neue Assoziationen.
Gendai – das
Synonym für
die Wahrnehmung und Integration des Neuen und einer neu assoziierten
Wirklichkeit: Die Beziehung zwischen dem
Offenkundigen und dem kaum Wahrgenommen ist im modernen Haiku viel
enger geworden. Atome und Galaxien
sind nicht nur Vorstellung und Abstraktion, sondern werden durch
moderne Techniken sukzessive konkreter – wirklicher,
weil wirksam. „Wirklich
ist, was wirkt“,
laut Thomas Mann.
Das Abstrakte, das sich dereinst aus
vielen konkreten Eindrücken
formte, wird wieder sinnlich und zu einem synästhetischen
Sinn, einer interaktiven und integrativen Ästhetik.
Die Wirkungen der zeitgenössischen
Technik und Wissenschaft werden stärker
und verändern
somit unsere Wirklichkeit beziehungsweise
die Wahrnehmung unserer Wirklichkeit. Wie unsere Erfahrungen unser
Denken beeinflussen, so beeinflusst unser Denken auch unsere
Erfahrungen und damit unsere Wahrnehmung.
Das moderne Haiku muss sich nicht von
den alten Sujets verabschieden, wohl aber genauer hinsehen, um nicht
repetativ in der Belanglosigkeit zu versinken. Das moderne Haiku des
21. Jahrhunderts
sucht und findet neue Verbindungen, sucht und findet uralte
Beziehungen in einem neue Licht.
Das Haiku ist ein Beziehungsgedicht,
das über
die gekonnt eingesetzte Nebeneinanderstellung neue Assoziationen
freisetzt.
Das moderne Haiku ist
ein Raumschiff, das neue Beziehungen zwischen Elementen,
Ebenen und Ereignissen ergründet.
In den unendlichen Weiten des Alls, den virtuellen des Mikrokosmos,
den existentiellen der Psyche und der Sozialkonstellationen und immer
wieder in der Natur selbst.
Vielleicht ist es an der Zeit, unsere
frischgeborenen Frösche
in den uralten Weiher des Haikai springen zu lassen ...
In Kürze oder Ferne
Eine Entgegnung von Ralf Bröker
Fünf Jahrhunderte Haiku-Tradition hat
Japan. Wie viele Jahre haben wir im Westen? Haben wir überhaupt
schon eine Tradition? Sind wir nicht immer noch mehrheitlich
Imitierende? Imitieren wir jetzt sogar dieses japanisch begründete
Anders-Sein, weil es uns nicht elitär genug ist, auf westliche Weise
anders zu sein? Auf www.haiku.de heißt es dazu sehr bedenkenswert von Rudi Pfaller: „Lasst
doch einfach die Autoren frei! Und wenn ihr sie frei lasst, braucht
man euren Blog nicht mehr.“
Vielleicht hast du, lieber Dietmar, mit
deinem kleinen Gendai-Manifest für den Westen gezeigt, dass wir es
doch öfter mal wagen sollten, eigene Haiku-Gefühle zu haben.
Gedanken machen wir uns ja alle genug. Und natürlich lächle ich
nicht wenig, wenn auch ich deinen „Steg
zu den Sternen“ nachgehe
und von Naturwissenschaften ausgelöstes Staunen in ungewohnte
Beziehungen setze.
An anderen Tagen aber sehe ich nicht
nur Haiku-Raumschiffe durch das Weltenall gleiten, sondern auch
Philosophen wandeln und Spielfilme flimmern, Rockstars touren und
Wanderarbeiter streiten. Selbst dem gequirlten Mist der Zombie-,
Football-, Berliner-Zeitung- und Weiß-der-Geier-was-noch-alles-Haiku
könnte in Kürze oder Ferne etwas Erstaunliches entwachsen.
Ich muss nur immer wieder neugierig und
hoffnungsvoll hinschauen. Wie ein Kind eben ...